Hallo zusammen,
nach dem kleinen Aufwärmtraining mit Marco und Markus am 05.07. (04./05.07.2015 | MDR-Gebiet + Hessen | Superzelle(n) mit Overshooting Top, laminare Böenfront und reichlich Blitze) sollte schon zwei Tage später die nächste Schwergewitterlage anstehen. Nach den Gewittern am Wochenende zuvor stand fest, dass sich die schwülheiße Luftmasse noch einmal aufbäumen sollte. Hinzu kam, dass sich die in den Wettermodellen für schwere Gewitter günstigen Parameter nun über Deutschland und insbesondere auch im mitteldeutschen Raum hervorragend überlappen konnten.
Am Ende stellte sich heraus, dass wir mit unseren Vermutungen richtig liegen würden. Ich für meinen Teil war sehr dicht an einem der schwersten Unwetter meiner bisherigen Chasingzeit dran. Zwar wurde diese rein optisch betrachtet im selben Juli sogar nochmal getoppt, was jedoch die Schäden anbelangt, stand das Unwetter denen, die beispielsweise am 11.09.2011 auf diesem Breitengrad durchzogen, in praktisch nichts nach.
Einleitend dazu sei euch der folgende Augenzeugenbericht eines Betroffenen aus Halle/Saale ans Herz gelegt, der die Schäden und die Gefühlszustände bei und nach dem Unwetter eindrucksvoll beschreibt. Die Worte darin bestärken mich, diese Analyse zu schreiben, da offenbar auch in diesen Zeiten immer noch ein berechtigtes Interesse an Aufklärung und Erkenntnisgewinn nach Unwettern diesen Ausmaßes besteht:
http://www.mz-web.de/mitteldeu…1266,31180604,item,1.html
Gleichzeitig eignen sich solche Tage im Nachhinein für uns Stormchaser ungemein, um umfassende Studien zu meteorologischen Parametern, zeitlichem Verlauf, genereller Chasingorganisation und Selbstreflektion, sowie zu den aufgetretenen Schäden aufzustellen. Meine Ergebnisse möchte ich euch hier präsentieren, muss jedoch gleich dazu sagen, dass durchaus ein paar Fachbegriffe auftauchen werden und der "fortgeschrittene Chaser" und Wetterexperte sicher mehr Spaß am lesen empfinden wird, als der, der gerade erst damit begonnen hat, sich für die Materie zu interessieren.
Auf einige fachliche Aspekte werde ich diesmal noch etwas ausführlicher eingehen und somit in Zeiten von Facebook, Twitter und Co. und der damit verbundenen schnelllebigen, effektheischenden "Berichterstattung" auch einen Beitrag zu dem leisten, was in der heutigen Zeit, nicht nur auf unser Hobby bezogen, am wichtigsten geworden ist: Wissensvermittlung. Dem interessierten Leser kann ich nur das ans Herz legen, was zu meiner Anfangszeit in den Wetterforen noch ganz normal war: Dem natürlichen Instinkt zur Neugier folgen, nach unklaren Begriffen suchen / gooooogeln, seinen Horizont stets aktiv erweitern und im Zweifelsfall immer fleißig nachfragen anstatt zum nächsten, spektakulären Facebook-Bild zu hüpfen, sich die Frage zu stellen: "Wie kriege ich das geilste Gewitterbild hin?", dann mit maßloser Selbstüberschätzung die nächste Pseudo-HP-Superzelle posten, sich mit einer Million Likes zu brüsten und sich innerlich insgeheim zu denken: "Was bin ich eigentlich für eine arme Wurst?"
Diese satirisch überspitzte Darstellung einiger Zeitgenossen trifft sicher nicht auf die Mehrheit zu, doch Teile dieses auf mangelndem Glauben an die eigene Lernfähigkeit basierenden Gedankenkonstrukts durchziehen unsere Gesellschaft doch
leider wie eine Seuche. Lange Rede, kurzer Sinn: Wer bis hierhin nicht den Tab im Browser gewechselt, auf die Facebook-Timeline im Smartphone geschaut oder mit dem Kopf auf die Tastatur geknallt ist, hat beste Voraussetzungen, aus dem folgenden Bericht etwas Brauchbares mitzunehmen.
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Meine Ausführungen werden sich im Wesentlichen auf eine langlebige Gewitterzelle beziehen, die von Rheinland-Pfalz bis Brandenburg zog und eine Lebensdauer von sage und schreibe sechs Stunden aufwies. Teilweise war diese solo unterwegs, vollzog dabei auch mehrere Zellsplits, teilweise aber auch am Leading Edge (südliches Ende) einer Gewitterlinie eingebettet. Im Bericht werde ich immer wieder zwischen Berichterstattung, meteorologischen Parametern und Schadensanalyse umswitchen, sodass die Chronologie gewahrt bleibt und sich nur die Perspektive auf das Geschehen ändert. Lasst euch also einfach vom Textfluss führen.
06. Juli 2015, später Abend:
Nach einer dringend notwendigen, wettertechnischen Pause am Montag, sitzen Markus und ich gemütlich an unseren PCs und schauen staunenden Blickes in die Wetterkarten. In der Folge kommt es zu regem Gedankenaustausch.
Was war zu sehen?
GFS, das Vorhersagemodell des amerikanischen Wetterdienstes, behielt seine Linie bei und prognostizierte von Südwesten her einen erneuten, heftigen Heißluftvorstoß in Richtung Mitteldeutschland im Laufe des Tages. Die zuvor eingeflossene, angenehm trockene Luft sollte dabei im Laufe des Tages von Südwesten her wieder durch feucht-heiße und sehr energiereiche Luftmassen ersetzt werden. Die CAPE-Werte sollten dabei zum Teil bis 2.000 oder 2.500 J/kg ansteigen können. Für Mitteldeutschland ist das ungefähr das Maximum des hier Möglichen. Kräftige Aufwinde und damit Hagelbildung sind in solchen Umgebungen sehr wahrscheinlich. Ein Funke reicht bereits, um eine hochreichende Gewitterzelle auszulösen. Gleichzeitig ist aber CAPE von vielen Faktoren abhängig, genaue Prognosen selbst einen Tag zuvor für einen bestimmten Ort sind schwierig. Die wichtigsten Einflussfaktoren sind zum einen die Temperatur- und Feuchteverhältnisse in Bodennähe, sowie die Temperaturabnahmen (Lapse Rates) mit der Höhe.
Um die potentielle Unwettergefahr abzuschätzen, ist CAPE eine wichtige Größe, aber bei weitem nicht der einzige Faktor. Für Superzellen benötigt es beispielsweise auch Windscherung, also eine Änderung der Windrichtung und -geschwindigkeit mit der Höhe. Die für Superzellen relevante Scherung wird meist im Bereich zwischen 0 und 6 km gesehen, die sog. Deep Layer Shear (DLS), wobei wir bei Werten ab 20m/s von für Superzellen relevanter Scherung sprechen, genügend Labilität vorausgesetzt. Das Zusammenspiel dieser Faktoren war an diesem Tag gegeben. Besonders auffällig war ein Mid Level Jet in Sturmstärke, was bedeutet, dass theoretisch auch bereits bei gewöhnlichen Gewitterzellen am Boden schwere Sturmböen, bei besonders kräftigen, beschleunigten Abwinden auch Orkanböen (Downbursts) ankommen können. Die Richtungsscherung, die rotierenden Aufwinden nochmals einen Impuls geben könnte, war mäßig ausgeprägt. Bodennah wehte der Wind eher aus S - SW, in der Höhe aus W, was bereits einen leichten Drehimpuls mit sich bringen würde.
Zudem benötigte es noch einen Hebungsantrieb, der an diesem Tag durch die über uns ziehende Welle und den sich annähernden Trog gegeben sein sollte. Durch das Absinken am Vormittag waren auch die Einstrahlung und die Tageszeit Unwetter begünstigende Faktoren.
Die Karten waren schließlich Grund genug für Markus und mich, nochmals eindrücklich vor der Lage im Forenthread zu warnen und Empfehlungen zu geben, da die hohen Zuggeschwindigkeiten in Verbindung mit der Hagel- und Sturmgefahr auch für den erfahrenen Stormchaser eine Herausforderung darstellten. Auch Estofex sah für den Tag ein hohes Gefahrenpotential.
Thread Schwergewitterlage 07.07.2015
07. Juli 2015, vormittags:
Nach einem klaren Morgen, der mit Tiefsttemperaturen von meist unter 15°C nochmal zum Durchlüften anregte, heizte sich die Luft sehr schnell auf, was nicht nur an der fast ungehinderten Sonneneinstrahlung, sondern auch an der recht trockenen Luft, sowie der zunehmenden Warmluftadvektion aus Südwesten lag. Die Höchsttemperaturen lagen bei uns entsprechend weit oberhalb der 30°C.
Quelle: wetterzentrale.de
Früher Nachmittag:
Zunächst fiel mir auf, dass zwar die Temperaturen angestiegen waren, die bodennahe Feuchte aber weit hinter den Modellprognosen zurückblieb. Bei solchen Taupunkten würde man schließlich nicht wirklich von schweren Gewittern ausgehen:
Quelle: www.wetteronline.de
Da in den beiden südlichen Bundesländern die Feuchte aber punktuell ganz gut vorhanden war, hoffte ich, dass sich die Entwicklung nur zeitlich etwas verschoben hatte. Auch die Radiosondenaufstiege (Soundings) von Stuttgart und München offenbarten schon den Aufbau von um die 1.700 J/kg ML-CAPE, wovon in Idar-Obenstein noch nichts zu sehen war. Dort konnte man jedoch hingegen bereits den ausgeprägten Mid-Level-Jet sehen (rot markiert):
Quelle: University of Wyoming, http://weather.uwyo.edu/upperair/sounding.html
Im Westen Deutschlands kam zur selben Zeit bereits erste grenzschichtentkoppelte Konvektion durch Hebung zu Stande. Die Feuchte stieg mit den Niederschlägen rasant an. Das war durchaus als Signal zu verstehen, dass in den höheren Schichten noch etwas mehr Wasser schlummerte, was v.a. für Folgeentwicklungen förderlich wäre.
Gegen 15.30 Uhr fotografierte Markus über Erfurt die ersten Gewittervorboten:
Thread Schwergewitterlage 07.07.2015
Auch das war ein wichtiger Hinweis. Die typischen, in Grüppchen angeordneten, türmchenförmigen Altocumulus castellanus (Ac cas) deuteten darauf hin, dass die Labilität in der mittleren Atmosphäre auch bei uns angekommen war. Mit der zusätzlichen Feuchte könnte die Konvektion schnell bodengebunden (surface based) werden.