22.06.2023 - Superzellen, Gewitterlinien und Blitzshow in & um Thüringen

  • Hallo zusammen,

    folgend ein Bericht zur Tour mit Markus & Marcel (W.) vom 22. Juni 2023.


    Über Westeuropa befand sich bereits seit Anfang der Woche ein Trog, der in der Höhe für Südwestströmung und damit für die Zufuhr feucht-heißer Luftmassen sorgte. Hitze und schwülwarme Verhältnisse waren also bereits mehr als ausreichend vorhanden. Was noch fehlte war ein kräftiger "Trigger", um die feucht-heiße Luft am Boden zu heben. Es passte daher nur allzu perfekt, dass sich am Mittwoch über Nacht ein Bodentief von Spanien aus auf den Weg über Frankreich hinweg bis nach Westdeutschland machte und dort am Donnerstag in der zweiten Tageshälfte eintraf.


    Aufgrund der Position von Trog und Bodentief war die Windscherung sehr gut zur Entwicklung einiger starker, organisierter Einzelzellen sowie ggf. Gewitterlinien geeignet. In Kombination mit der Warmfront des Bodentiefs, die sich am Nachmittag über der Mitte Deutschlands befinden sollte und den nötigen Hebungsantrieb lieferte, waren also alle Zutaten für eine explosive Gewitterentwicklung bereit. Estofex platzierte in der Vorhersage am Abend des 21.06. auch noch einen Level 3-Bereich direkt über Thüringen - das Drama war also vorbereitet.


    Sounding Meiningen vom 22.06. - 12z (14:00 lokal):

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    Quelle: https://weather.uwyo.edu/upperair/sounding.html


    Im Sounding recht gut zu erkennen, wenn auch nicht 100% passend für die Situation in Nordthüringen / Hessen, ist der durch das Bodentief ausgelöste Ostwind. Der Wind dreht dann mit der Höhe durch den Trog immer weiter auf Südwest. (Vor Ort war die Anströmung aus Ost bodennah besser, da Meiningen sich hier bereits hinter der Konvergenz befand.) Zu sehen sind ebenfalls ein Deckel ab ca. 850HPa, sowie darüber eine etwas feuchte Schicht. Deren Präsenz war bereits vor Auslöse der Gewitter gut durch etwas Wolkenbildung & Virga zu erkennen und war später u.U. ein Faktor der für einige Überraschungen sorgen sollte.


    Wir trafen uns gegen 15:00 Uhr am Parkplatz Haarberg und begannen von dort aus die Gewitterjagd.


    Für Marcel war es meines Wissens nach die erste wirklich große Tour und sicherlich ein interessanter Einblick mit dem Gewissen “Lust auf mehr”-Faktor. ;-)

    Zusätzlich war generell klar, dass Markus auch häufiger mit Antenne Thüringen im Gespräch stehen und sich nebenbei noch um Text-Updates kümmern würde. Wir mussten also gut vorplanen, halbwegs entspannt und zielgerichtet navigieren und nochmal in besonderer Form einen guten Lageüberblick für ggf. notwendige Warnungen behalten.


    Nach kurzem Treffen und Absprache mit Anton, der nur einige hundert Meter entfernt parkte, verlagerten wir uns gemeinsam vorerst nach Erfurt West.


    Blick bei Frienstedt Richtung TH Wald:




    Über Thüringen gab es bisher keine hochreichenden Quellungen, dafür aber starke Sonneneinstrahlung und zusammen mit der hohen Luftfeuchte schweißtreibende Verhältnisse. Gewitterentstehung ließ hier aber auf sich warten. Nach der Entwicklung der Zellen über NRW/Hessen stand dann für uns fest, dass wir zügig in den Nordwesten Thüringens verlagern müssen.



    Thüringer Plains ;-)



    Wie hier auf dem Radar zu erkennen ist, begann die südlichste Zelle der Linie in NRW, später über Hessen, auszuscheren:


    https://kachelmannwetter.com/d…hland/20230622-1320z.html


    Die Zelle traf im Verlauf mit voller Wucht auf Kassel, die Stadt bekam somit fast alle möglichen Begleiterscheinungen einer kräftigen Superzelle ab. Entsprechend war danach das Schadensbild vor Ort: https://www.hessenschau.de/pan…,unwetter-hessen-130.html


    Einmal am Standort bei Leinefelde angekommen, war die Situation aber bereits im Prozess der Veränderung. Es war über lange Zeit anzunehmen, dass die Zelle aufgrund ihrer guten Organisation und der bereits sichtbaren Zugrichtung quasi direkt nach Osten und damit in den Norden Thüringens ziehen würde. Damit hätten wir dann die erwartete Südharz-Zelle gehabt. Es sollte allerdings anders kommen.



    Die Zelle war zwar gut organisiert und hatte eine ausgeprägte Wallcloud (siehe Mitte, unten links), aber sie konnte sich einfach nicht von der nach Nordosten ziehenden Linie lösen. Es war für uns nicht klar zu bestimmen, ob es nun bei einer Outflow-dominanten Gewitterlinie oder doch einer Einzelzelle bleibt.



    Wir trafen hier spontan auf Marco, bevor für uns beide die erneute Verlagerung begann.


    Blick auf das südliche Ende der ersten Gewitterlinie (/ Superzelle):





    Das Gewitter zog nach einer Weile aus unserem Gebiet heraus und machte sich auf den Weg nördlich am Harz vorbei. Die Intensität blieb hoch, allerdings war sie für uns so erstmal nicht mehr sinnvoll erreichbar. Unter diesem Gedanken fuhren wir einer Neuentstehung bei Eisenach entgegen.


    https://kachelmannwetter.com/d…ingen/20230622-1555z.html


    Anstatt dass sich diese allerdings, wie eigentlich zu erwarten, als organisierte Zelle zur besten Luft in die Mitte Thüringens bewegte, ging das gute Stück schnurgerade nach Norden weg. Wir waren gerade nordwestlich von Mühlhausen angekommen, die Zelle war auch sichtbar gut aufgebaut, zog aber mit voller Geschwindigkeit in die "falsche" Richtung…


    Blick auf die aus Eisenach kommende Zelle (Richtung Westen) - Kontrast ist bereits stark erhöht, live war nur der Aufwindbereich zu erahnen:



    Irgendetwas, eventuell die feuchte Schicht in mittlerer Höhe oder ein Absinken über TH, sorgte dafür, dass einfach nichts in die Landesmitte ziehen wollte. Die einzig sinnvolle Option, die wir nach kurzer Zeit sahen, war dann doch noch die Verfolgung der “Nordharz-Zelle” bzw. Linie aufzunehmen. Es ging also zurück nach Norden, um schnellstmöglich auf die A38 zu kommen und Sangerhausen zu erreichen.


    Die Rückseite der Zellen nördlich von Thüringen von der A38 aus:




    Es war den Modellen nach anzunehmen, dass die Gewitter in diesem Bereich über Sachsen-Anhalt einen leichten Südost-Drift bekommen und sich zur guten Luft hin entwickeln würden. Über dem Norden Deutschlands stabilisierte Hochdruck die Lage, was auch mit der Abschwächung der Zellen in diese Richtung zu erkennen war. Es war aber etwas seltsam… Die Zellen waren eigentlich alle top organisiert, unsere "integrierte" Superzelle am Südende aber nicht dazu fähig ihre Zugrichtung dauerhaft zu verändern. Stattdessen gab es eher Neuentwicklungen am “Tail End Charlie”, aber keine schöne Einzelzelle. Obwohl wir nochmal auf Höhe der Linie landeten, wäre eine Verfolgung von hier aus eher schwierig gewesen und erschien uns auch nicht mehr wirklich sinnvoll.


    Wir legten deshalb in Sangerhausen eine Pause ein und hatten nun zwei Optionen:

    1. Wieder zurück nach Mühlhausen und die zweite Gewitterlinie abfangen, oder
    2. Nach Süd(ost) verlagern und auf die abend-/nächtlichen Entwicklungen aus Bayern (Franken ;-) ) warten

    Da man grundsätzlich nicht davon ausgeht, dass ein zweites Gewitter hinter den Vorherigen (bereits sehr starken Zellen) gute Bedingungen vorfindet, verlagerten wir also erstmal zurück nach Erfurt. Da heute aber alles etwas kurios war, zeigten später einige Bilder natürlich eine wunderbar ausgeprägte Shelf inkl Blitzen bei Mühlhausen…


    Egal, zum Zeitpunkt unserer Entscheidung war diese Entwicklung nicht unbedingt erwartbar. Vor uns baute sich auf der Anfahrt nach EF gerade eine schöne, nahezu grazile, organisierte Gewitterzelle auf.


    Wir standen also erstmal wieder am Haarberg und beobachteten die Entwicklung im Raum Arnstadt / Ilmenau.




    Die Zelle sorgte trotz der recht kleinen Ausmaße für etwas Starkregen und Hagel östlich von Arnstadt.


    Hagel der Zelle in der Nähe von Arnstadt (Bild von der Familie) ;):



    Die Hoffnung, dass sich das Gewitter eventuell etablieren könnte, verschwand bald wieder, da sich das kleine Ding nach Verlassen des Thüringer Walds direkt wieder komplett auflöste.


    Nun gut… also doch noch die Weiterfahrt nach Ost. Es ging nach Gera, wo wir direkt hinter einer nordöstlich ziehenden Kette aus Gewittern bei Wernsdorf weiter beobachten konnten. Hier lagen einige kleinere Aststücke und Zweige auf der Straße, der Ort wurde wohl gegen 21 Uhr etwas stärker getroffen.


    https://kachelmannwetter.com/d…ingen/20230622-1945z.html


    Es war toll. Denn selten kommt man in den Genuss das Gewitter, wie an der Perlenschnur aufgefädelt, vor einem vorbeiziehen und man dabei komplett trocken zuschauen und die Blitze sowie Donner genießen kann.


    Die Zellen schmissen durchaus ein paar kräftige Erdblitze, insgesamt war aber auch schon viel in den Wolken oder leicht entlang der Wolkenuntergrenze.




    (Das letzte Bild ist ein Komposit aus 2 verschiedenen Aufnahmen)


    Wir kamen nach einiger Zeit langsam in den Regen einiger Neuentwicklungen westlich von Gera, fuhren also in Richtung Naumburg. Die südlich von uns positionierte Zelle war an sich ziemlich kräftig. Sie konnte sich allerdings in dieser Umgebung auch nicht mehr der Verclusterung erwehren.


    https://kachelmannwetter.com/d…darhd/20230622-2045z.html


    Wir beobachteten noch einmal das Lichtspektakel bei Schmerdorf und beendeten danach die Jagd.


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    Insgesamt war es diesmal eine echte Aufgabe, ein sinnvolles Verständnis für die Lageentwicklung “im Feld” zu bekommen. Zu einem Teil waren die Gewitter exakt so platziert und der Ablauf ähnlich wie vorher besprochen und in Modellen dargestellt. Andererseits passierte gerade im Hotspot-Gebiet über der Mitte Thüringens bis zum Abend nur sehr wenig und selbst dann waren die Entwicklungen nur sehr verhalten und kurzlebig. Gegebenenfalls lassen sich die Gründe hierfür noch in einer Nachbesprechung ermitteln und an dieser Stelle später ergänzen.


    Danke für's Lesen, ich hoffe ihr konntet das Chasing und unsere Eindrücke der Lage ein bisschen miterleben. ;-)


    Fahrtstrecke - nicht 100% exakt - ca. 520km in etwa 10h waren es:




    Viele Grüße,

    Felix

  • Vielen Dank für den schnellen und schönen Bericht unserer Jagd!

    Wir mussten also gut vorplanen, halbwegs entspannt und zielgerichtet navigieren und nochmal in besonderer Form einen guten Lageüberblick für ggf. notwendige Warnungen behalten.

    Für die Brisanz der Lage und das Unterbringen dieser ganzen Dinge während ich fuhr war die Logistik ein super Job von dir!


    Level 3 Warnungen

    Kleine Anmerkung: Estofex gibt keine Warnungen aus, sondern Vorhersagen in Bezug auf Unwetter ;)


    LG

    Markus

    1. Vorsitzender Thüringer Storm Chaser e.V.
    ESSL Voluntary Observer Person (Qualitätslevel QC1) (European Severe Storms Laboratory)
    Weitere Mitgliedschaften: Member of AMS Weatherband · Arbeitskreis Meteore e.V.

  • Ach du meine Güte. Ihr habt mich ja in meiner Euphorie eiskalt ertappt und sie regelrecht ausgebremst. Ich danke euch ernsthaft dafür.


    Vorweg: 1A Bericht und tolle, kompetente Sturmdoku.


    Ja, ich war wohl (bin es natürlich auch immer noch) definitiv zu sehr fasziniert von dieser für mich sehr eindrucksvollen, turbulenten "Ex"-Superzelle als sie durch "mein" Jagdrevier zog. Auch wenn sie jetzt im Nachhinein betrachtet deutlich schwächer hier im EIC ankam, als das sie im Kasseler Raum ihr Unwesen trieb. Sie hat für mich persönlich vor Ort trotzdem noch alles andere in den Schatten gestellt. (u.a. R.I.P 16.8.13). Einen besonderen Namen hat sie (gedanklich für mich) auf jedenfall verdient, nur ich muss das "Südharz" (dank Euch - ist positiv gemeint) streichen. Ich hatte während der Jagd extra bewusst das Radar außer acht gelassen, weil ich einfach möglichst wenig verpassen wollte. Von den ganzen Wolken- und Farbspektakel war ich dann wohl so geblendet, dass mir garnicht mehr bewusst war, dass sie die "Route, durch's Südharzland" ignoriert hat.


    Nunja, mein Bericht folgt ja auch noch. Da kann ich ja vielleicht auch nochmal drauf eingehen.

  • Danke für den Kommentar & das Kompliment Peter!


    Ja, ich war wohl (bin es natürlich auch immer noch) definitiv zu sehr fasziniert von dieser für mich sehr eindrucksvollen, turbulenten "Ex"-Superzelle als sie durch "mein" Jagdrevier zog. Auch wenn sie jetzt im Nachhinein betrachtet deutlich schwächer hier im EIC ankam, als das sie im Kasseler Raum ihr Unwesen trieb. Sie hat für mich persönlich vor Ort trotzdem noch alles andere in den Schatten gestellt.


    Ich denke mal, du wirst die Zelle dennoch von uns allen womöglich im besten Moment erwischt haben. Gerade bevor es dann doch sehr linienartig wurde. Wir wären in der Zeit auch wohl gar nicht mehr sinnvoll in die Nähe von Aufwind & Wallcloud gekommen (+ Suche nach Beobachtungspunkt). Daher ist es immer ganz gut wenn eben nicht nur eine Gruppe unterwegs ist, sondern sich die Beobachtung auf viele Standorte verteilt. Im Nachhinein betrachtet haben wir das wohl unbewusst auch ganz gut geschafft. Irgendwie hatte an dem Tag dann doch jeder ein leicht anderes Target.

    In Discord waren ja auch schon ein paar Bilder vom Live-Eindruck drin. ;-) Von daher bin ich auf weitere Aufnahmen gespannt!


    Kleine Anmerkung: Estofex gibt keine Warnungen aus, sondern Vorhersagen in Bezug auf Unwetter ;)


    Danke... ich passe das mal noch an... ;-)

  • Ach du meine Güte. Ihr habt mich ja in meiner Euphorie eiskalt ertappt und sie regelrecht ausgebremst. Ich danke euch ernsthaft dafür.


    Ja, ich war wohl (bin es natürlich auch immer noch) definitiv zu sehr fasziniert von dieser für mich sehr eindrucksvollen, turbulenten "Ex"-Superzelle


    Nunja, mein Bericht folgt ja auch noch. Da kann ich ja vielleicht auch nochmal drauf eingehen.

    Hallo Peter,


    die Euphorie ist absolut gerechtfertigt, denn du standest einfach perfekt zur richtigen Zeit. Verdienter Glückwünsch an dich!


    Wir haben bei unserer Ankunft die Entwicklung der Wallcloud aus der Ferne gesehen und dann war die Zelle zu schnell wieder abwinddominiert, sodass wir an unserem Punkt zwar richtig in Verlagerungsrichtung standen, aber zu falsch für die positive Fortsetzung der Zelle im Sinne von weiterer Organisation.


    Auf deinen Bericht freuen wir uns schon!


    LG

    1. Vorsitzender Thüringer Storm Chaser e.V.
    ESSL Voluntary Observer Person (Qualitätslevel QC1) (European Severe Storms Laboratory)
    Weitere Mitgliedschaften: Member of AMS Weatherband · Arbeitskreis Meteore e.V.