Die Klassiker: Einzel- und Multizellen

Eine einzelne Gewitterzelle, aus der im Verlauf keine weitere Zelle hervorgeht, ist sehr selten. Ein Gewitter hat bekanntlich einen Aufwind- und einen Abwindbereich. Die ausströmende kalte Luft hebt die warme Luft in ihrem Umfeld wieder an und sorgt für eine Wiederholung der Gewitterentwicklung. Ab diesem Zeitpunkt müsste demnach schon von einer Multizelle gesprochen werden, da ein neues Auf- und Abwindsystem in Gang gesetzt wurde. Meist entstehen solche Zellen in einer einheitlichen Luftmasse bevorzugt über den Gebirgen. Der Thüringer Wald ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Häufig fällt unter solchen Bedingungen die Intensität des Gewitters nur für sehr kurze Zeit markant oder kräftig aus, nämlich dann, wenn es seinen Reifeprozess erreicht hat. Stirbt die Zelle ab und es entwickelt sich um Umkreis keine weitere Zelle, kann man von einer Einzelzelle sprechen. Im Normalfall entsteht jedoch bald eine weitere Zelle aus der ersten Zelle, also eine Multizelle.

Beispiel Multizelle:

Bild: M. Weggässer

Multizellen machen den Großteil der Gewitter hierzulande aus. Maßgebend ist auch hier am Anfang eine Einzelzelle, an der sich jedoch an ihrem Ende, dort wo der Niederschlag fällt, am Rand zur warmen Umgebungsluft eine neue Gewitterzelle bildet. Durch die ausströmende Kaltluft der 1. Zelle wird die warme Umgebungsluft wieder angehoben, der Kondensationsprozess eingeletet und eine neue Quellwolke (Cumulus) entsteht. Sie durchläuft nun die gleichen Stadien wie die 1. Zelle, während sie sich mit der Höhenströmung (häufig Südwest-Nordost) verlagert. Das obige Bild zeigt eine typische Multizellenentwicklung.

Rückwärtsgang? Wenn sich Gewitter retrograd verlagern

Im Volksmund herrscht teilweise die falsche Meinung, dass ein Gewitter mit noch einmal "zurück kommt". Dies ist garantiert nicht der Fall! Gewitter verlagern sich grundsätzlich mit der Höhenströmung von ihrem Entwicklungsort fort. Die Gewitter können nicht einfach in den Rückwärtsgang schalten. Bei Luftmassengewittern, wo keine nennenswerte Höhenströmung zu finden ist, unterliegen die Gewitterzellen ihrem Eigenleben. Stirbt die erste Zelle ab, bildet sich in ihrem Umfeld (meist am Süd- oder Westende) durch die kalten Abwinde neue Gewitterzellen. Diese entstehen versetzt von dem Gebiet der ersten Gewitterzelle nach Süden/Westen, sodass der Eindruck entsteht, die Gewitter ziehen rückwärts, zumal sich der Ambossschirm der ersten Zelle nach Norden ausbreitet. Bilden sich solche Gewitter über dem Thüringer Wald, können die verwehten, faserigen Schirme bis ins Thüringer Becken reichen. Rückwärtsziehende Gewitter werden in Fachsprache als "retrograd entwickelte Gewitter" bezeichnet. In den Entwicklungsgebieten kommt es immer wieder durch Starkniederschläge und Dauerregen zu plötzlich auftretenden Überflutungen (Sturzfluten oder "flash floods").

 

Bild: M. Schwamberger

Eine weitere Möglichkeit der scheinbar rückwärts ziehenden Gewitter ist bei einer klassischen Mutlizelle der Fall. Die Bildung neuer Gewitterzellen wird am Südwestende der 1. Zelle ausgelöst, wo der Niederschlag den kalten Abwärtsstrom am Boden ausbreiten lässt. Dieser hebt wiederum die dort lagernde Warmluft an und setzt nun hinter der 1. Zelle die nächste Zellentwicklung in Gang. So scheint es, als verlagere sich das Gewitter rückwärts oder mag von Nordosten her aufziehen. Insgesamt verlagert sich aber die Multizelle mit der Höhenströmung weiter.

Die richtig großen: Mesoskalige konvektive Systeme

Wie der Name schon verlauten lässt, handelt es sich hierbei um etwas "Großes". Solche Systeme bestehen aus einem Verbund mehrerer Gewitter, die sich zu einem großen Komplex zusammenschließen. Diese Komplexe können dabei eine runde oder ovale Form ebenso annehmen, wie auch langgezogene und teils gebogene Linien mit hunderten Kilometer Ausdehnung. Der Bereich mit den stärksten Niederschlägen befindet sich meist an der Vorderseite solcher Systeme. Häufig gehen diese Systeme mit ergiebigem Starkregen, Hagel, großflächigen Gewitterfallböen und hoher Blitzintensität einher. Hinter dem Bereich der stärksten Entwicklungen schließt sich noch einmal ein Bereich mit Regen an, der schauerartig verstärkt ist. Diese Gewittersysteme können ein Eigenleben entwickeln und unabhängig von der Höhenströmung über das Land ziehen. Nachfolgend ein Überblick anhand von Radarbildern:

Eine der Hauptgefahren bei diesen großräumigen Systemen ist die Böenfront an ihrer Vorderkante. Banal gesehen, handelt es sich dabei um plötzlich stark auffrischenden Wind, der in extremen Fällen Orkanstärke (> 119 km/h) erreichen kann. Der Wind frischt bereits vor der eigentichen Wolkenkante, die meist durch eine walzenartige, zerfetzt aussehende Wolke markiert ist. Näheres zu Böenfronten finden Sie unter "Was dabei ist". Starkregen, Hagel zw. 2 und 5 cm Durchmesser und eine hohe Blitzintensität reihen sich in die Gefahrenliste bei solchen Komplexen ein.

Gefährlich vielfältig und verdreht: Superzellen

Diese Form der Gewitterzelle enthält einen rotierenden Aufwärtsstrom und bildet die gewaltigste Gewitterform hinsichtlich der Begleiterscheinungen und Intensität. Extreme Starkniederschläge die Sturzfluten verursachen, Großhagel über 5 cm, im Extremfall über 10 cm Durchmesser, Tornados mit verheehrenden Windgeschwindigkeiten zwischen 100 und 300 km/h, in den schwersten Fällen bis 500 km/h (!), Gewitterfallböen über 100 km/h und hohe Blitzintensitäten können kombiniert auftreten.

Superzellen lassen sich noch einmal in 3 Typen einteilen: Die klassiche Superzelle, die LP-Superzelle ("low precipitation" = wenig Niederschlag) und die HP-Superzelle ("high precipitation" = viel Niederschlag). Bei der HP-Superzelle sind besonders intensive Niederschläge mit blitzartigen Überflutungen und schwere Hagelschläge zu erwarten. Der Tornado kann vom Regen verhüllt sein ("rain wrapped"), was ihn noch gefährlicher macht, da er nicht eindeutig sichtbar ist. Bei der LP-Superzelle herrscht meist nur wenig Niederschlag, dafür kann großer Hagel niedergehen. Die Strukturen bei solchen LP-Superzellen sind meist klar und scharf abgegrenzt.

Um eine Superzelle als solche zu identifizieren, bedarf es einerseits Vor-Ort-Beobachtungen nach den äußeren Merkmalen sowie der Betrachtung der Zelle auf dem Doppler-Radar (das normale Niederschlagsradar gibt keine hinreichende Sicherheit und kann nur Indizien liefern). Der mittlere Westen der USA bildet ideale Bedingungen für die Superzellen- und Tornadobildung. Hier in Deutschland sind Superzellen auch keine Seltenheit, doch sind sie längst nicht so einfach zu bestimmen und zu identifizieren. Der eingangs erwähnte Vergleich Vor-Ort-Beobachtung und Dokumentation verbunden mit Auswertung eines Doppler-Radarbildes gibt häufig (doch nicht immer) Aufschluss. Häufig bilden sich Superzellen hierzulande im Vorfeld von Kaltfronten oder Konvergenzen.

Eine "LP-Superzelle" am 30.06.2012 in Südthüringen (Bild: Dany Knoethig-Thieme).

Indizien dafür, dass man eine Superzelle vor sich hat:

Verdrehter Aufwindturm: Besonders in der Entwicklung von Superzellen oder bei LP-Superzellen länger sichtbar ist eine verdrehte, vertikal mächtig entwickelte Quellwolke.

Einströmende Wolkenbänder: Während der Entwicklung der Superzelle sind meist mittelhohe, laminare Wolkenbänder zu sehen, die in Richtung Superzelle strömen. Häufig nehmen diese durch die Rotation eine entsprechende Krümmung an.

Regenfreie Basis (rain-free Base): Dunkle Wolkenbasis ohne sichtbaren Niederschlag (was dicke Regentropfen und Hagel nicht ganz ausschließt) die den Bereich des Aufwinds markiert. Hier kann sich eine Wallcloud bilden.

Wallcloud (Mauerwolke): Unter der regenfreien Basis der Superzelle findet sich oft eine sehr tief hängende Wolke in Form einer "Mauer" bzw. eines "Blocks". Sollte diese Wallcloud rotieren, ist die Entstehung eines Tornados wahrscheinlich. Es rotieren jedoch längst nich alle Wallclouds! Ihr Vorhandensein spricht jedoch für einen rotierenden Aufwärtsstrom innerhalb der Superzelle. An dem Ende der Wallcloud, die zum Niederschlagsbereich gerichtet ist, zeigt sich eine nach unten gerichtete Spitze.

Tailcloud (Schwanzwolke): Diese Wolkenform hängt an der Unterseite der Wallcloud zum vorderen Niederschlagsbereich (FFD) hin. Dabei strömt die Tailcloud "in die Wallcloud" hinein.

Abwärtsstrom an der Vorderseite (forward flank downdraft = FFD): Niederschlagsbereich an der Vorderkante der Superzelle.

Abwärtsstrom an der Rückseite (rear flank downdraft = RFD): Bereich absinkender, trockener Luft, die an der Rückseite des rotierenden Aufwindbereiches (Mesozyklone) zu finden ist. Neben Niederschlägen kann der Wind hier noch einmal deutlich auffrischen. Oft ist zwischen Wallcloud und RFD ein heller Fleck (clear slot) zu finden. Im Konfliktbereich zwischen Mesozyklone, clear slot und RFD bildet sich der Tornado.

Versorgungslinie (flanking line): Bereich im Südwesten des Gewitters, an der mehrere Quellwolken (Cmulus) aneinandergereiht zu einer Linie in die Superzelle einströmen.

Rückwärtsziehender Amboss (häufig mit Mammati): Bedingt durch den kräftigen Aufwind breitet sich der Amboss des Cumulonimbus entgegen der Höhenströmung nach hinten aus. Häufig zeigen sich an ihm sack- oder beulenartige Wolken, die nach unten hängen (sog. Mammatus-Wolken).

 

Superzellen auf dem Niederschlagsradar:

Am Besten lassen sich Superzellen auf einem Doppler-Radar erkennen. Mithilfe dieses Radars kann gemessen werden, ob sich Objekte zum Radar hin oder sich von ihm fort bewegen (Radialgeschwindigkeit). Die hierzulande angebotenen Radarbilder im Internet sind keine Doppler-Radarbilder (nur wenige Doppler-Radarbilder sind frei verfügbar). Die dargestellten Niederschläge in den "normalen" Radarbildern werden durch Mikrowellen erzeugt, die das Radar aussendet und durch Reflektivität bei Wassertropfen, Eiskristallen etc. wieder empfängt. Auf diesen Radarbildern kann die Existenz einer Superzelle nur vermutet werden. Eine Kombination aus Vor-Ort-Beobachtung und Radaranalyse kann Aufschluss geben.

Es gibt ähnlich wie bei den optischen Merkmalen ähnlich viele Radarmerkmale. Wir möchten nachfolgend nur einen Teil wiedergeben:

Hook-Echo (Haken-Echo): Eingehdrehter, bzw. gekrümmter Bereich am Ende einer Gewitterzelle in Form eines Hakens. Im Bereich des Hakens findet sich häufig eine Mesozyklone sowie ein möglicher Tornado.

V-Notch: Eine Einkerbung in der Form eines V's im Abwindbereich der Superzelle.

Im Loop des Radarbildes kann man außerdem folgende Merkmale als Indiz für eine Superzelle werten:

Ausscheren von der Hauptströmung: Superzellen bewegen sich oft nicht mit der allgemeinen Hautpströmung mit, sondern scheren nach Ost bzw. Südost aus.

 

Beispiel vom 19.06.2012: Am südlichen Ende eines Niederschlagsbandes überquerte eine klassische Superzelle Thüringen von WSW nach ONO, während sich das gesamte System von Südwest nach Nordost verlagerte (Radarbilder und -animation: WetterOnline).

 

Storm Split mit Left-Mover und Right-Mover: Es kommt vor, dass sich eine Superzelle aufteilt ("Split Storm"). Es entstehen aus der Ursprungszelle also 2 einzelne Zellen. Eine Zelle schert nach links aus ("Left-Mover") und bewegt sich meist nach Norden oder Nordosten (häufig unter Abschwächung). Der "Right-Mover" bewegt sich nach rechts und zieht weiter nach Osten. Er büßt kaum an Intensität ein.

 

 

Beispiel vom 06.08.2013: Über Ostthüringen entstanden an diesem Tag gleich mehrere Superzellen. Besonderes Augenmerk soll dabei auf einer Zelle liegen, die sich südlich von Gera gegen 14:45 Uhr entwickelt und nordostwärts zieht. Eine gute Stunde später kommt es zum Storm Split im Altenburger Land. Der Leftmover zieht nordwärts nach Leipzig, der Rightmover weiter nach Osten (Radarbilder und -animation: WetterOnline).

Nähere Infos zu Superzellenmerkmalen im Dopplerradar sind z.B. hier zu sehen: Wikipedia - Hook Echo

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