Zwei Wochen Unwetterpotential zum Monatswechsel Mai/Juni 2016 in Thüringen mit mehrfachen Überschwemmungen und lokal hohen Sachschäden. Neben hohen Blitzratzen und Hagel wurden mehrfach Trichterwolken beobachtet. Die lang anhaltende Wetterlage war in ihrer Ausdauer ungewöhnlich und kostete in Deutschland 11 Menschen das Leben, fast 100 Personen wurden verletzt und es entstand Schaden in Milliardenhöhe.
Wetterlage: Stationärer Gewittersumpf mit Eigenleben
Die Ausgangslage zur außergewöhnlichen Unwetterperiode über Deutschland bildete am 27.05. ein Hochdruckgebiet über Fennoskandien und ein Höhentief vor dem europäischen Kontinent. Das Höhentief lenkte mit südwestlicher Strömung feuchtwarme Luft nach Mitteleuropa (folg. Grafik links). Das südlich positionierte Höhentief verlagerte sich am letzten Maiwochenende über Frankreich nach Deutschland. Währenddessen etablierte sich bei Island ein Hochdruckgebiet, welches die westeuropäische Zirkulation blockierte (folg. Grafik rechts).
Somit herrschte über Deutschland kaum Luftbewegung und die feuchtwarme Luftmasse ist einfach liegengeblieben ("Gewittersumpf"). Über dieser lag das eingangs erwähnte Höhentief als Steuerungszentrum in ca. 6km Höhe. Dort herrschen kalte Temperaturen, während es am Boden schwülwarm ist. Die Temperaturdifferenz zwischen Boden und Höhentief ermöglicht die Bildung heftiger Gewitter.
Aufgrund der fehlenden Windströmung konnten sich die Gewitter nicht verlagern und blieben dort stehen, wo sie entstanden sind und breiteten sich aus. So konnten über der selben Region immer wieder ergiebige Regenfälle niedergehen. Die Gewitter waren ihrem Eigenleben unterworfen, wobei Höhenzüge und Gebirge gerade in Thüringen die Gewitterbildung durch Aufsteigen der Luft fördern.
Das Höhentief kreiselte tagelang über dem Land und lies am Boden 2 weitere Bodentiefs ("Elvira" und "Friederike") entstehen, die teilweise großflächige Gewittersysteme über Deutschland ausbildeten. Diese traktierten uns mit heftigen Gewittern, die besonders durch intensive Starkniederschläge gekennzeichnet waren, die Sturzfluten auslösten. Auch Hagel, Windböen, hohe Blitzraten und Trichterwolken wurden mehrfach beobachtet.
Erst am 08.06. räumte die Kaltfront eines Tiefs über Finnland die feuchtwarme Gewitterluft endgültig aus.
Die Karte zeigt die Druckverteilung in 5.500 km Höhe (500 hPa Druckfläche) mit einem Höhentiefkomplex vor Westeuropa (grüner Bereich mit den "T's") und ein umfangreiches Hochdruckgebiet über Fennoskandien (Nordeuropa). Auch über dem Mittelmeer ist eine Hochdruckbrücke wirksam. Mit südwestlicher Strömung wird feuchtwarme Luft nach Mitteleuropa geführt.
Blick auf die Druckverteilung am Boden: Ein Hoch über Irland bildet eine Brücke bis vor die iberische Halbinsel und blockiert die atlantische Westwindzirkulation (rot markierter Bereich). Tiefdruckgebiete westlich davon können nicht mehr nach Osten vordringen (rote Pfeile). Über Deutschland ist inzwischen ein Bodentief ("Elvira") unter dem Höhentief zu finden.
Am Nachmittag entwickelten sich über Thüringer Wald, Schiefergebirge und Rhön erste Schauer und Gewitter. Zum Abend griff ein Gewittercluster auf Südwestthüringen über und breitete sich in der Nacht zum Sonntag nordwärts aus. Durch eingelagerte Gewitterzellen und Stauniederschlag am Thüringer Wald fielen teils hohe Regenmengen mit einer Spitze rund um Meiningen. Die Messstation des DWD registrierte binnen zwei Stunden 42 l/m² Niederschlag, aufsummiert in 24h waren es insgesamt 54,2 l/m². Im Stadtgebiet wurden Straßen, Garagen und Keller überschwemmt. An einigen Stellen stand das Wasser 40cm hoch. In Leutersdorf (SM) kam es zu einer Schlammlawine, die sich ihren Weg durch den Ort bahnte. Die B89 wurde mit Schlamm und Schotter überflutet. Auch drangen Wasser und Schlamm in einige Häuser, darunter das Pfarrhaus und das Feuerwehrgerätehaus, ein. Anwohner, Feuerwehr und Straßenbauamt waren noch am Folgetag mit Aufräumarbeiten beschäftigt.
Bildergalerie Unwetter Leutersdorf (insuedthueringen) / Unwetter beschert Leutersdorf arbeitsreichen Sonntag (MDR)
Einen Schwerpunkt der Unwetterlage in Thüringen bildete an diesem Sonntag Ilmenau. Eine erste Gewitterzelle, die ursprünglich gegen 14:45 Uhr zw. Frauenwald und Neustadt am Rennsteig entstand, verlagerte sich etwas nach Nordwesten und bildete über ihrem Entstehungsgebiet neue Gewitterzellen, die gegen 15:30 Uhr Ilmenau trafen. Dort deuteten die Radarreflektivitäten auf intensiven Niederschlag und Hagel hin, der seine stärkste Aktivität bis etwa 16:00 Uhr entfaltete. Unsere Vor-Ort-Beobachtungen zeigten nicht nur das "Stehen" der Gewitterzelle, sondern auch Rotation. Bedingt durch die verschiedenen Täler und Berge konnte zudem stetig aufsteigende Feuchtigkeit das Gewitter solange versorgen, bis sich am Boden so viel gekühlte Luft durch Niederschlag ausbreitete, die dem Gewitter seinen Nährstoff (warme und feuchte Luft) nahm. Es bildeten sich im Verlauf nach Süden und Osten hin wieder neue Gewitterzellen.
Um 16:23 Uhr wurde die Feuerwehr Ilmenau zum ersten Einsatz alarmiert. In der Summe mehr als 100 vollgelaufene Keller, nicht mehr passierbare Hauptstraßen, ausgespültes Straßenpflaster, durch Schlammwasser überflutete Tiefgarage, Parkplätze und Straßenzüge in Wohngebieten, teils mit Öl kontaminiertes Wasser, liegengebliebene Kraftfahrzeuge, aus der Verankerung gedrückte Gullydeckel und ein unterspülter Bahndamm auf einer Länge von fünf Metern, der die Bahnstrecke zwischen Ilmenau und Elgersburg lahmlegte sind nur einige der Schäden, die das Unwetter anrichtete. Die Schadenshöhe wurde zuletzt auf 750.000,00 € beziffert, wobei die Schäden an Privathaushalten laut dpa-Angaben noch nicht eingerechnet sind. Feuerwehren aus der Stadt und der Region sowie später das THW Rudolstadt-Saalfeld waren über 24h im Einsatz um die Schäden zu beseitigen und auch besonders die Ilmenauer Teiche zu sichern.
Bilderserien: Ilmenau am Tag nach dem Unwetter (TA) / Überschwemmung Ilmenau (insuedthueringen) / Aufräumen nach Überschwemmungen in Ilmenau (MDR)
In der Nacht zum Montag überquerte ein mesoskaliges konvektives System (MCS) aus Süddeutschland Thüringen mit weiteren Gewittern und anhaltenden Regenfällen. Am Montagmorgen folgten weitere kräftige Gewitter mit Hagel und Wolkenbrüchen, die von Greiz kommend westwärts zogen. In Jena liefen einige Keller mit Wasser voll. In der Krautgasse wurde die Straße durch das unterirdische Rückhaltebecken nach oben gedrückt, nachdem dieses mit Wasser vollgelaufen war. Auch eine Fußgängerunterführung und eine Tiefgarage waren betroffen. In Kleinprießnitz kam es zu einem Stromausfall nach Blitzschlag. In Weimar hatte die Feuerwehr ebenso mit wassergefüllten Kellern zu tun sowie hochgedrückten Gullys. Im Landkreis Gotha kam es in der Kreisstadt sowie in Ohrdruf, Schwabhausen und Trügleben zu Überflutungen. In Weimar-Schöndorf vielen 30,4 l/m², in Jena (Sternwarte) 23,9 l/m² und in 24,4 l/m² in Martinroda (IK). Über 200.000 Blitze wurden zw dem. 29.05. und 30.05. (jeweils 6 - 6 Uhr) über Deutschland registriert.
Regengebiete mit eingelagerten Gewittern verlagerten sich am 01.06. von Nordosten nach Südwesten über den Freistaat hinweg. In Schwarza, Wahns und Wasungen (SM) wurden Straßen und Keller überflutet. Im Saale-Holzland-Kreis wurde in Serba-Trotz eine Frau von einem Blitz getroffen und laut Medienberichten leicht verletzt. In Schaderode bei Erfurt wurden mehrere Grundstücke von Wasser und Schlamm überschwemmt. Die Feuerwehren stapelten Sandsäcke um weitere Schäden zu vermeiden. In Süd- und Mittelthüringen summierten sich die 24-Regensummen auf 32,7 l/m² (Schmalkalden), 30 l/m² in Weimar-Schöndorf und Veilsdorf (HBN) und 27 l/m² in Mühlberg (GTH).
Abermals zogen am Morgen des 02.06. von Sachsen kommend Gewittercluster über Ostthüringen nach Südwesten. In Schmölln (ABG) lief eine Bahnunterführung mit Wasser voll. Eine Auto musste hier von der Feuerwehr geborgen werden. Das Sportfest für 400 Kinder wurde abgebrochen. Weiter östlich hatten die Orte Klausa, Zschernischen, Busche und Boderitz ebenfalls mit Wasser und Schlamm zu kämpfen: Straßen, Grundstücke, Keller und der Eingangsbereich eines Seniorenwohnheimes in Klausa wurden mit braunem Dreck überzogen. Auch über Nordthüringen zogen Regenfälle hinweg, die jedoch keine größeren Schäden verursachten. 38,5 l/m² Regen fielen in Katzhütte (SLF), 21,7 l/m² in Olbersleben (SÖM) und 21,9 l/m² in Harth-Pöllnitz (GRZ).
Am 04.06. traten über den Freistaat verteilt Gewitter auf. In Schwarza (SM) schlug der Blitz in ein Wohnhaus ein. Die Feuerwehr konnte einen Brandausbruch vermeiden.
Bildergalerie 02.06.2016: Schlammwelle in Klausa und Zschernichen (LVZ)
Im Eichsfeld wurde im Bereich Mackenrode/Bischofferode von mehreren Personen eine Trichterwolke (Funnel) beobachtet. Ob Bodenkontakt bestand, ist bisher noch unsicher. Im südlichen Landkreis gingen Hagel und ergiebige Regenfälle nieder. Nahe Dingelstädt kam es zu Überflutungen. In Mühlhausen fing ein Dachstuhl nach Blitzeinschlag Feuer, Straßen waren überschwemmt, Keller liefen voll. Auch im Kyffhäuser- und Unstrut-Hainich-Kreis sowie im LK Sömmerda überflutete Starkregen Straßen, drückte Gullys nach oben und lies Keller voll mit Wasser laufen.
Ähnliches Bild auch in Pößneck (SOK). Genau eine Woche nach dem ersten Unwetter wurde auch Ilmenau erneut von einem Gewitter mit Starkregen und Hagel getroffen. Straßen wurden überschwemmt und etliche Keller mussten ausgepumpt werden. Das Stadtfest wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt. Es kam über das Land verteilt zu diversen Gewitterclustern und -linien, die sich langsam von Nordost in Richtung Südwest verlagerten.
Ähnlich wie am Vortag entstanden bereits zur Mittagszeit südlich von Harz und Thüringer Wald kräftige Gewitter, die sich kaum verlagerten und viel Regen abluden. In Uder (EIC) trat der Kornbach über die Ufer. Schlamm und Wasser standen auf mehreren Straßen und in einigen Kellern, Hagel lag auf den Straßen. Auch die Gemeinde Leutersdorf (SM) bei Meiningen wurde zum zweiten Mal von einer kleineren Schlammlawine als in der Woche zuvor heimgesucht. Die Bundesstraße war abermals überflutet und Wasser drang in das Pfarrhaus ein.
Allein in einer Stunde fielen an der Station Frankenblick-Mengersgereuth-Hämmern (SON) 44,1 l/m². Von Suhl über Schleusingen bis Coburg wurden immer wieder Gewitter ausgelöst, die bis zum Abend zw. 20 und 40 l/m², teils laut Radarniederschlagsmenge über 60 l/m² erreichten.
Stehende Gewitter und schnelle Fluten
Wenn Gewitter sich kaum verlagern und an Ort und Stelle stehen, können Sie große Niederschlagsmengen in kurzer Zeit abladen. Entscheidend für eine plötzliche Überschwemmung ist Intensität und Dauer des Niederschlags. Bei Wetterlagen mit wenig Höhenströmung wie dieser regeneriert sich die erste Gewitterzelle immer wieder neu und löst neue Gewitter in ihrem Umkreis aus. Somit kann die selbe Region mehrmals getroffen werden.
Hinzu kommen zahlreiche weitere Faktoren wie die Aufnahmefähigkeit des Bodens, die Pflanzenarten auf den Feldern, die Versiegelung im Einzugsbereich der Sturzflut und insbesondere auch die Orographie: Schon eine geringe Hangneigung reicht aus, während auf ebenen Flächen das Wasser einfach stehen bleibt.
Zu unterscheiden ist dabei von einem "klassischen" Flusshochwasser wie etwa 2013 oder 2011, die durch ergiebige Dauerniederschläge und Tauwetter ausgelöst werden. Die Flusspegel steigen über den mittleren Wasserstand an und der Fluss tritt über die Ufer. Hier ist meist noch zeitlicher Vorlauf möglich, um Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Lösen Starkniederschläge von Gewittern Überschwemmungen aus, kommen diese Sturzfluten (engl. "flash floods") rasend schnell und entfalten gerade in Kombination mit der Orographie (Hangneigung, Täler) teilweise enorme Kräfte.
In Thüringen kommt es jährlich zu mehr oder minder schweren Sturzfluten nach Gewitterstarkregen. Der Sommer 2014 war geprägt von ähnlichen Gewittersumpflagen mit häufigen Überschwemmungen. Auch Ende April 2014 gab es im Weimarer Land und im Südharz schadensträchtige Schlammlawinen. Im Mai 2013 verwüstete eine weitere Schlammlawine den Ortskern von Kirchhasel (SLF). Die Reihe lässt sich beliebig in die Vergangenheit fortsetzen.
Die Auswertungen des Kompetenzzentrums Klima (TLUBN) zeigen Schwerpunktgebiete von Starkniederschlägen und daraus abgeleitetem Sturzflutpotential (Datengrundlage sind die Jahre 2004 - 2010) im Freistaat. Gerade im Bereich des Thüringer Waldes sind die Wahrscheinlichkeiten für Starkniederschläge erhöht. Besonders im Sommer treten bei windschwachen Verhältnissen in schwülwarmer Luft Gewitter von Suhl über Neustadt bis Neuhaus/Rwg. auf. Auch der östliche Rand des Mittelgebirges zeigt dabei Häufungen gegenüber anderer Regionen.
Deutschland: Sturzfluten, Tornados und Blitzschläge
Die Videos aus benachbarten Bundesländern zeigen auf erschreckende Weise die Wucht von schweren Sturzfluten im südlichen Bayern bis zu Überflutungen im Ruhrgebiet. In Norddeutschland wurden seltene Doppeltornados gesichtet, ein weiterer Tornado verursachte Schäden in Hamburg. Zu "Rock am Ring" wurden über 80 Menschen durch Blitzschlag verletzt und das Festival abgesagt. Bilanz nach 2 Wochen Unwetterlage: Insgesamt 11 Menschen starben, fast 100 wurden verletzt, die Sachschäden beziffern sich auf Milliardenhöhe, viele Orte und Landschaften sind für immer verändert und die Betroffenen traumatisiert.
Verheerende Sturzflut in Braunsbach (BW) am 29.05.2016.
Sturzflut Simbach am Inn (BY) am 01.06.2016.
Doppel-Tornados über Schleswig-Holstein am 05.06.2016.
Tornado über Hamburg am 07.06.2016