Hallo zusammen,
es ist mittlerweile schon fast drei Monate her, als eine Gewitterlage Mitteldeutschland heimsuchte, die neben Starkregen und Sturm-/Orkanböen vor allem durch die immense Anzahl an Blitzen auffiel. Gewaltige Energiemengen von bis zu 2.500 J/kg standen bereit, was für unsere Verhältnisse eine ganz ordentliche "Hausnummer" darstellt. Diese Energie kam vor allem durch eine ausgeprägte EML zu Stande, die für große Temperaturabnahmen mit der Höhe sorgte. In der Realität reichte es im 12z-Meiningen-Sounding dann für ca. 1750 J/kg ML-CAPE bei verhältnismäßig schwachem Deckel.
Die Scherung war an diesem Tag auch nicht zu verachten, wenngleich nicht extrem, und Trigger für die Auslöse standen zur Genüge bereit (Warmfrontwelle, diverse lokale Konvergenzen, Kaltfront, ...). Damit lässt sich der Tag gut mit Lagen wie dem 20.06.2013 oder dem 05.07.2015 vergleichen. Es passte alles für mehrere große Systeme, die unseren Erfahrungen nach gern ihr Eigenleben entwickeln und sich weiter in die Warmluft "hineinfressen". Die Frage war weniger OB, sondern WANN es auslösen würde.
Markus stimmte sich bereits Tage zuvor mit mir und dem Rest des TSC-Vorhersageteams ab und wir telefonierten uns zusammen. Vor allem die Warmfrontwelle war dabei ein springender Punkt, da diese durch die letzten Modellläufe unterschätzt wurde, die wir aber mit scharfem Blick beobachteten, da gerade hier die Überlappung mit vorzüglicher Scherung (DLS > 20 m/s) gegeben war.
Ich leitete derweil schon alles in die Wege, um gerüstet zu sein:
✓ halben Tag Urlaub nehmen
✓ mich mit Beifahrer Oliver abstimmen
✓ Proviant und Ausrüstung prüfen
In den frühen Morgenstunden zuckten schließlich die ersten Blitze auf der Nordsee vor Sylt. Die Zellen bewegten sich landeinwärts und nördlich angrenzend entwickelte sich ein Regengebiet. Am Vormittag entwickelte sich eine kräftigere Linie über Schleswig-Holstein, die weiter Richtung Hamburg zog und die Hansestadt mit einer astreinen Shelfcloud beglückte. Von da an war klar, dass das Szenario mit der Warmfrontwelle Realität werden würde. Estofex warnte zu Recht, dass gerade am Südwestende der Linie die Gefahr einer eingelagerten Superzelle mit Tornadogefahr bestand (Tail End Charlie).
Jedoch musste ich noch ein wenig arbeiten, mich um die Nahrungsaufnahme kümmern, den Ausfall meiner S-Bahn nach Hause kompensieren und Oliver Bescheid geben, bevor es dann am frühen Nachmittag losgehen konnte. So waren wir relativ spät dran oder besser gesagt: Die Zelle war sehr früh dran. Gegen 14.30 Uhr wurde bereits Magdeburg verwüstet und Dessau später gestreift. Die einzige Option für Oliver und mich war es daher, die A9 in Richtung Berlin zu nehmen. Für den Fall, dass dieser Tag ohne jedes Bild enden würde, beauftragte ich Oliver damit, während der Fahrt schonmal die Altocumuli über unseren Köpfen zu fotografieren...
Doch dabei blieb es nicht.
Kurz vor Dessau nahmen wir die Ausfahrt und ließen das Ungetüm mit großem Sicherheitsabstand nordöstlich von uns vorbeiziehen. Die Zelle war definitiv outflowdominant, eingedrehte Inflow-Bänder in mittlerer Höhe zeugten jedoch noch vom rotierenden Aufwind. Im folgenden Bild ist die Shelf-Struktur deutlicher, im unteren, rechten Bildteil kann man jedoch erahnen, wo die Reise hingeht.
Schon bald erreichte uns der stürmische Outflow, der massig Staub aufwirbelte, den Oliver festhielt. Das war dann auch unser persönlicher Gang 1:
Im Folgenden waren wir uns uneins über das weitere Vorgehen, da unsere Zelle nach Südosten abdriftete, wo eine Verfolgung schwierig war. Letztendlich überzeugte ich Oliver, der Outflow Boundary nach Süden zu folgen, um noch Chancen zu haben, von Neuentwicklungen in der Warmluft zu profitieren. Während die Temperatur zuvor um ca. 10 K abkühlte, arbeiteten wir uns Schritt für Schritt wieder in bis zu 28°C warme Luft vor. Es kristallisierte sich heraus, dass die nächste Runde an eine Kette Cbs ging, die von der Harzregion aus nach Südosten zog und die sich allmählich verstärkte. Wir positionierten uns an der südwestlichen Flanke der neuen Welle bei Schafstädt und fotografierten eine entzückende Linie, die sich in interessanten Farben präsentierte. Leichter vorlaufender Regen störte den Aufzug kaum. Hier konnten wir trotz hoher Zuggeschwindigkeiten immerhin knapp 15 Minuten verweilen und genießen.
Interessant waren auch die Kuppeln mit pileus-Käppchen, die aus der Böenfront heraus cumulierten - hier nochmal im Detail:
Nochmal aus Olivers Kameraperspektive:
Anschließend brach die Nacht kurzzeitig herein, der wir aufgrund einer Neuentwicklung vor unserer Nase und Sturm + Starkregen auf der Autobahn kaum noch entfliehen konnten. (Gang 2)
Für den dritten Gang entschieden wir uns die Zellen in Nordthüringen noch abzugreifen - was uns auch gelang, jedoch blieb der Himmel zwischen den Zellen nun schon zugekleistert und die energiehungrigen Zellen teilten sich diese nun unter sich auf, was die Heftigkeit der Ereignisse nach und nach mindern sollte. Dennoch gerieten wir wieder in heftigen Starkregen und Blitze samt Niederschlagsvorhängen verzückten uns (Gang 3). Mit der Wahl der besten Perspektive war es dann schon etwas schwieriger - doch Oliver gelang noch dieser Schnappschuss im nordöstlichen Thüringen, wobei er euch als Navigator sicher auch den genauen Standort mitteilen kann:
Vom Starkregen ließen wir uns schließlich erneut überrollen und konnten auf der Rückseite noch tolle Mammati bestaunen (Gang 4):
Obwohl Oliver bereits wieder nach Osten aufbrechen wollte, war ich noch zu sehr im Chase-Modus, um schon an Abbruch zu denken. Doch da der Zwischengang aufgrund fehlender Zutaten bei Heringen die Puste ausging, war dann auch ich überzeugt, dass es der Strecke und Zeit genug war und wir wieder zurück nach Leipzig fahren sollten.
Nach einem Tankstopp wurde uns unerwartet das Dessert serviert, welches weniger durch elektrische Aktivität, sondern vielmehr durch eine abermals nette Böenfront zur blauen Stunde auffiel:
Oliver war nun sehr gesättigt und ich brachte ihn lieber nach Hause. Ich selbst wagte das Experiment, ob noch ein paar nächtliche Blitze hineinpassten und fuhr ein Stück Richtung Südosten. Doch ich merkte, dass ich kaum aufnahmefähig war. Insofern war es mir dann auch egal, dass es mit der Blitzfotografie aufgrund des anhaltenden Regens nicht mehr klappte.
Schließlich gab es zu Hause genug zu verdauen...
Fazit:
- Ein actionreiches Chasing mit zu vielen Eindrücken - ich war definitiv übersättigt und mir wurde im Nachhinein klar, dass das Chasen tatsächlich auch zu einer Sucht werden kann bei solchen Lagen. Besser ist es, man sucht sich maximal drei verschiedene Standorte aus, die auch etwas zum Verweilen einladen, um sich keinen zusätzlichen Stress zu machen.
- Man sollte Trigger nicht unterschätzen, die bereits einmal im Modell als Auslöser fungiert haben und diese stets einkalkulieren, insbesondere bei hochenergetischen Lagen.
- Es bestätigt sich wieder einmal, dass Lagen mit viel Energie und Scherung häufig in mehreren Wellen ausgeräumt werden, wovon jede Welle auf ihre Weise spannend sein kann. Es war wohl auch die Lage mit den meisten Blitzen über Mitteldeutschland. Große Schäden brachte aber in erster Linie die Superzelle an der Warmfrontwelle, da hier Scherung und Energie gleichermaßen passten.
- Über die Nachrichten-Radiosender, z.B. MDR aktuell bekommt man teils erstaunliche Infos bei Schwergewitterlagen zu hören, die über die normale Wettervorhersage hinausgehen - top!
- Es ist wichtig, bei hohen Zuggeschwindigkeiten schnelle Entscheidungen treffen zu können. Das setzt natürlich Erfahrung und eine aktuelle, detaillierte Datengrundlage durch Radar, Blitzortung, Sat, Himmelsbild, Verkehrsinformationen usw. voraus.
Viele Grüße
Oliver und Chris